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Partnerarbeit bestimmt Blattform

Ein Artikel aus dem carl 03|2025

von Karin Hollricher

Die Ober- und Unterseiten von Blättern sind unterschiedlich strukturiert. Das raffinierte Zusammenspiel zweier Moleküle bewirkt die selbstorganisierte Ausbildung dieser Strukturen. 

Ein Blick in die Botanik zeigt, wie viele unterschiedliche Blattformen die Evolution hervorgebracht hat. Eine bedeutende Innovation war die Entstehung großflächiger Formen, die möglichst viel Licht für die Fotosynthese einfangen. Die meisten Blütenpflanzen haben bifaziale Blätter, bei denen die Ober- und Unterseite unterschiedlich gebaut sind. Beispielsweise enthalten die Zellen auf der sonnenzugewandten Blattoberseite besonders viele Chloroplasten. Dagegen befinden sich auf der Blattunterseite Spaltöffnungen, die Wasserdampf und Luft durchlassen. 

Alle Blätter entstehen aus Meristemzellen, den Stammzellen der Pflanzen. Wie aber bilden sich planare Flächen mit eindeutiger Polarität? 

Mit dieser Frage beschäftigt sich Marja Timmermans schon lange. Mit ihrem Team am Cold Spring Harbor Laboratory auf Long Island, New York, entdeckte sie vor rund 20 Jahren, dass nicht nur Transkriptionsfaktoren die unterschiedliche Entwicklung der Blattseiten steuern, sondern dass dafür auch zwei kleine regulatorische RNA-Moleküle – miR166 [1] und tasiARF [2] – nötig sind. Welche Funktionen diese kleinen RNAs haben, treibt Timmermans auch heute noch um, inzwischen am Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen an der Universität Tübingen. Um das herauszufinden, verfolgte ihr Team das Schicksal jeder einzelnen Zelle eines entstehenden Blattes. Damit konnten die Forschenden dokumentieren, dass die beiden kleinen und mobilen RNA-Moleküle entgegengesetzte Gradienten im entstehenden Blatt ausbilden [3]

Wie Gradienten autonom entstehen können, erklärte schon 1952 Alan Turing, ein Pionier der Computerentwicklung, mit einem mathematisch formulierbaren Mechanismus, dem sogenannten Reaktions-Diffusions-System [4].  Dafür sind mindestens zwei Partner nötig, ein Aktivator A und dessen Inhibitor I, die am gleichen Ort im sich entwickelnden Organismus synthetisiert werden. Partner A verstärkt autokatalytisch seine eigene Produktion sowie die von I. Weitere Bedingung: A diffundiert langsamer als I. Aus dieser Konstellation heraus kann sich die lokale Zunahme des Aktivators autokatalytisch verstärken, und der in der Minderzahl vorhandene – weil mobilere – Inhibitor vermag nur wenig dagegen zu tun. Doch mit zunehmender Entfernung zum Syntheseort der Moleküle überwiegt wegen seiner höheren Diffusionseffizienz die Konzentration von I und bremst die Wirkung von A aus.  

Mit zellbiologischen Untersuchungen und Simulationen konnte das Team von Timmermans zeigen, dass sich mit den zwei kleinen RNA-Molekülen miR166 und tasiARF nach einem Turing-Mechanismus die Blattentwicklung erklären lässt. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass mobile kleine RNAs, die direkt mit Transkriptionsfaktoren interagieren, eine Turing-Dynamik erzeugen können“, heißt es in der Publikation [3].  

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Virtuelle Schnitte durch das Blatt zeigen, wie kleine Variationen in den Wechselwirkungen der Gene zu unterschiedlichen räumlichen Mustern der Genaktivität führen. Unterschiede zwischen den oberen (rot) und unteren Schichten (blau) bestimmen die endgültige Blattform [5].
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Links: Typisches flaches Blatt mit stabilem bipolarem Genaktivitätsmuster

Mitte: Blatt mit verschobener Polarität, beispielsweise spezialisierte Ausformung fleischfressender Pflanzen

Rechts: Ein radiales Genaktivitätsmuster durch Verlust der Polarität führt zur Ausbildung von Rankenstrukturen.

Glossar

Transkriptionsfaktoren sind Moleküle, die an bestimmte Regionen von Genen binden und dadurch deren Ablesen verstärken oder verhindern können. 

[1] M. Juares et al., 2004, Nature 428, 84-88 / [2] F. Nogueira et al., 2007, Genes Dev. 21, 750-755 
[3] E. Scacchi et al., 2024, Nat. Plants 10, 412-422 / [4] A. Turing, 1952, Phil. Trans. R. Soc. Lond. B 237, 37–72  
[5] www.uni-tuebingen.de/universitaet/aktuelles-und-publikationen/pressemitteilungen/newsfullview-pressemitteilungen/article/im-pflanzenblatt-organisieren-die-zellen-selbst-eine-optimale-flaeche-fuer-die-fotosynthese/

Bildnachweise: Emanuele Scacchi / Friedhelm Albrecht, Universität Tübingen 

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