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Mit KI zu neuen Arzneimitteln

Ein Artikel aus dem carl 03|2025

von Carolin Sage

Seit vielen Jahren nutzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler computergestützte Hilfsmittel bei der Erforschung, Entwicklung und Zulassung von neuen Medikamenten. Jetzt helfen auch KI-Methoden dabei, Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen zu entwickeln.

Als Özlem Türeci und Ugur Sahin, das Gründerduo von BioNTech, im Januar 2020 beschlossen, einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln, nannten sie ihr Vorhaben „Projekt Lightspeed“. Und sie hielten Wort: Noch im selben Jahr wurde der Impfstoff zugelassen [1]. Wenn wir uns nicht in der Sondersituation einer Pandemie befinden, dauert es allerdings mehrere Jahre, bis ein neuer Wirkstoff entwickelt ist [2]. Nur jedes achte neu entwickelte Medikament erhält tatsächlich auch eine Zulassung [3], und es dauert im Schnitt zehn bis fünfzehn Jahre, bis ein neues Arzneimittel auf den Markt kommt.

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Typischer Ablauf und Dauer einer Medikamentenentwicklung, bezogen auf Small Molecules [1]

Dass die Aussichten, eine Medikamentenentwicklung zum erfolgreichen Abschluss zu bringen, im Laufe der letzten Jahrzehnte immer schlechter geworden sind, zeigte bereits eine Analyse aus dem Jahr 2012 [4]. Diese besagt, dass auf dem US-amerikanischen Markt seit den 1950er-Jahren nach und nach immer weniger neue Medikamente zugelassen wurden. Das lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass die Krankheiten, für die es noch keine wirksamen Medikamente gibt, sehr komplex sind.

So suchen Forschende beispielsweise gegen viele Formen der Demenz immer noch nach Behandlungsoptionen. Man kennt hier zwar Symptome, hat aber noch keine genauen Vorstellungen davon, welche molekularen Abläufe dazu führen. Will man jedoch eine Krankheit heilen oder sie an ihrem Voranschreiten hindern, muss man zunächst einmal verstehen, welche Mechanismen zu der Erkrankung führen und welche Schlüsselmoleküle eine Rolle spielen. Erst danach kann man Targets ausfindig machen, an denen Wirkstoffe ansetzen könnten. Dazu müssen Forschende eine schier unüberschaubare Menge an Daten zu möglichen genetischen Zusammenhängen, komplexen biologischen Netzwerken und Stoffwechselvorgängen auswerten.

Hier kommt KI ins Spiel, denn sie ist bei der Auswertung von großen Datenmengen äußerst hilfreich. KI bringt nicht nur Zeitersparnis, sondern kann auch Zusammenhänge finden, wo Menschen (noch) keine sehen.  Wie in diesen Fällen KI bei der Datenanalyse helfen kann, ist nicht nur Teil der aktuellen Forschung [5], sondern bei einigen Pharmaunternehmen schon seit einigen Jahren in Anwendung. So kooperiert Boehringer Ingelheim beispielsweise mit Phenomic AI, einem kanadischen Unternehmen, das sich auf neue Targets für schlecht therapierbare Krebsarten spezialisiert hat [2]

Es geht jedoch nicht immer um ein neues und besseres Verständnis von Krankheiten. Denn selbst wenn die Ursache einer Erkrankung und auch deren Verlauf bekannt sind, kann man das Problem nicht immer bei der Wurzel packen: Potenzielle Wirkstoffe, sogenannte Hits, müssen erst einmal identifiziert werden, selbst wenn das Target bekannt ist. Aus einer mitunter langen Liste von Wirkstoffkandidaten werden dann die vielversprechendsten ausgewählt und optimiert (Lead-Selektion und Lead-Optimierung) – ein sehr mühsames, langwieriges Verfahren.

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Anzahl der Publikationen über KI-Anwendungen in der Pharmaforschung im Zeitraum 2018–2022 [1]

Im Falle von strukturell einfachen Wirkstoffen wie den Small Molecules liefert KI auf sehr pragmatische Art Hilfe: Man muss sie einfach nur danach fragen. Forschende der Universität Bonn haben im Oktober 2024 eine Anwendung entwickelt, die anhand eines Sprachmodells, ähnlich wie bei ChatGPT, Wirkstoffkandidaten vorschlägt [6]. Der Clou: Diese Hits sind so designt, dass sie an zwei Proteine binden, die im Krankheitsgeschehen eine Rolle spielen, und, so der Plan, eine Kombinationstherapie mit mehreren Wirkstoffen ersetzen können.

Ist die Optimierung schließlich geschafft, können die neuen Wirkstoffe zuerst in Zell- und später in Tierstudien getestet werden. Erst dann zeigt sich ihre Wirksamkeit und Sicherheit unter realen Bedingungen. Diejenigen Substanzen, die am besten abschneiden, kommen für klinische Studien am Menschen infrage.

Der Pharmagigant Pfizer gibt an, bei der Auswertung der klinischen Daten zur Entwicklung des mRNA-Impfstoffs gegen das Corona-Virus KI genutzt zu haben. Die Auswertung schließe etwa zehn Millionen Datenpunkte ein und dauere auf konventionellem Wege etwa einen Monat, so Pfizer in einer Mitteilung [7]

Mit der Software Smart Data Query (SDQ) habe man das auf schlappe 22 Stunden verkürzen können.

Bei aller Euphorie angesichts der smarten Lösungen, die KI zu liefern vermag, kann noch nicht abschließend gesagt werden, ob die pharmazeutische Forschung und Entwicklung in naher Zukunft tatsächlich mehr neue oder bessere Wirkstoffe auf den Markt bringen wird, denn es gibt noch Hürden. Beispielsweise sind die benötigten Trainingsdaten für KI-Entwickler nicht immer in ausreichender Qualität zugänglich. Auch das Potenzial von Fake-Publikationen durch KI-Anwendungen [8] und das Risiko eines Dual-Use sollte man bedenken, denn eine potente Methode, die den besten Wirkstoff entdecken kann, kann gleichermaßen das stärkste Gift zutage bringen. 


Das zeigte die US-amerikanische Firma Collaborations Pharmaceuticals Inc., die KI üblicherweise zur Identifizierung von hochwirksamen und gleichsam wenig toxischen Substanzen nutzt. Sie kehrte in einem Experiment die Anforderungen an den Wirkstoff gezielt um. Der KI-Algorithmus lieferte in weniger als sechs Stunden 40  000 toxische Verbindungen, darunter auch chemische Kampfstoffe, die es in der Realität tatsächlich schon gibt [9].

Glossar

Ein Target ist Angriffspunkt für einen Wirkstoff. Das kann beispielsweise ein Protein oder ein Stoffwechselprodukt sein, das als Ursache einer Erkrankung gilt oder deren Voranschreiten begünstigt. 

Als Small Molecules bezeichnet man in der Wirkstoffforschung Moleküle mit überschaubarer Größe. In der Regel sind es kleine organische Moleküle, im Gegensatz zu proteinbasierten Wirkstoffen (beispielsweise Antikörpern).

[1] K. Leisinger, 2024, Research Ethics 20, 847-856
[2] S. Paul et al., 2010, Nat. Rev. Drug Discov. 9, 203-214
[3] vfa Biotech-Report 2024, 26
[4] J. Scannell et al., 2012, Nat. Rev. Drug Discov. 11, 191-200
[5] F. Gao et al., 2022, GBP 20, 811-813 
[6] S. Srinivasan und J. Bajorath, 2024, Cell Reports Physical Science 5, 102255 
[7] mRNA and Artificial Intelligence for Advanced Vaccine Innovation. www.pfizer.com/stories/articles?field_fs_tags_target_id[7046]=7046
[8] J. Haider et al., 2024, Misinformation Review 5, doi.org/10.37016/mr-2020-156
[9] F. Urbina, 2022, Nat. Mach. Intell. 4, 189-191

Bildnachweise: freepik / Tatjana Pospiech, Carl ROTH / Tatjana Pospiech, Carl ROTH 

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